Lebensnot | wändig

"Unsre Wände sind so dünn wie Haut, Daß ein jeder teilnimmt, wenn ich weine, Flüstern dringt herüber wie Gegröle:
Und wie stumm in abgeschloßner Höhle   Unberührt und ungeschaut   Steht doch jeder fern und fühlt: alleine."
(Alfred Wolfenstein)

Bild
Noch heute blicke ich gern

Noch heute blicke ich gern
Aus einer Dachluke heraus
Auf entlegene Hinterhöfe
Lasse den Duft
Trocknender Bettlaken
Als Krümel in meinen
Sinnen knirschen
                Und
Die von Zeit reichlich
Bestoßene Erinnerung kommt
Auch bald wie ein Gesang
Aus dem Setzkasten der Stadt
Weht herüber
Klingt blechern gegen
Den ewigen Schluckauf
Eines einsamen Universums
Aus der Luke heraus
Schmeckt es nach Glück

© by Reinhard Bitter
lichtscheu

die wand abklopfen es könnten lieder versteckt sein dahinter
vergraben unter tapeten mit fliehenden augen
licht streicht dunkel entlang an der wand

ich hör sie schluchzen
drei tränen haben sich angesammelt
an der fußleiste des parketts
spurlos tränken sie das holz

© by Marcel Inhoff
Tagebuchnotiz I

Mit geschlossenen Augen
durch die Wohnung gehen
tagelang
bis die Schränke dir erschöpfend
Auskunft geben
bis die Tapete laut wird und
sich löst im Innern
des Kopfes die Wände kippen

bis du den Dingen gehorchst

© by Hubert Schirneck
almost got the blues

fast leer ist das zimmer
eine offene frage
das alte klavier
und dein lachen
stehen noch da

ruhelos
stürmte dein wind
durch nächte
und wände
und tage
am fluss
klopften ans herz

jetzt füllt freiheit
zur hälfte das glas
der küchentisch
erzählt eine geschichte mehr
und der morgen gehört mir

© by Marianne Rieter
abendstück (halbimprovisiert)

es sind die roten zigarettenspitzen
die im zimmer umherschweben
wie städte, fixpunkte in der dunkelheit.
das geräusch des wasserhahns ist es,
die stille kräuselnd.
der feuerstein der funken schlägt, in der küche.
über dem frischbezogenen pfirsichduftbett
explodiert ein gewitter und
mit meinen kalten schwarzen fingern
betaste ich noch das tapetenmuster
bevor es fort schwimmt. die halbleeren
flaschen auf dem herbstteppich
schlafen seit tagen, ich fürchte
mich vor ihrem zischenden erwachen,
doch die laterne glotzt wie immer von
draußen mit ihrem zyklopenauge,
tropfende elektrizität,
gelber schimmer auf brauner
sonnenhaut und all die beinahetoten
in den häusern, sie interviewen die nacht.
ich halte meine augen mit ketten und fesseln
geschlossen und denke nicht an morgen

© by Dennis Gonska
andernorts

dieses strähnige licht
der luken
unter den schmierigen
sich auflösenden dächern
schatten wandern
und verzerren sich
an schiefen wänden
nicht als mahnung etwa
vom himmel hoch
kommt nichts mehr nur
dieser kreuzkriechende
hinweis auf krankhafte prozesse
und niemand der
einem auf die sprünge hilft
man kommt schließlich
von selbst drauf daß die lage-
besprechungen andernorts
stattfinden

© by Wolf Steinhardt
einkaufszentrum

die luft ist kalt hier
bei den tiefkühlprodukten
starren die regale zurück
gleichgültig erbarmungslos
bis hinaus auf den parkplatz
lichtreflexe in glasfassaden
und neongeräusche
die nach der leere greifen
in der plastiktüte
panik.

© by marc hermann
So weit ich sehe

Hier wo ich mich so wenig auskenne
wie in meiner Westentasche
kreisen gußeiserne Vögel
unter einem Himmel aus Panzerglas
werfen langsame Flugzeuge
immerfort Blumen ab über dem Meer
hat auf dem weißen Tischtuch
der Wind ein Weinglas umgestoßen
ohne es zu zerbrechen

Hier wo die Nacht den Sternen
ein frostiger Hafen ist
verbrennt in emaillierten Wannen
ertrunkenes Wasser
wurzeln Schränke voller Äxte
tief in versiegelten Kellern
schlage ich gläserne Nägel
ins Eis der Spiegel
verberge mich hinter
dem Vorhang des Schlafs
vor dem Licht kälter als Frauen
lasse mich treiben gegen den Strom
mein goldenes Vlies
ein Fell das davonschwimmt

© by Bernd Straub-Molitor
Bild
nur immer

die Wände
entlang
nur
immer
und wieder
vorwärts
und wieder
die Wände
wohin
will ich
nur
immer
und wieder

zurück

© by Anna
Sie sagt, sie habe Angst

Die Stadt sei fremd wie eh und je
Welten trennen Menschen
Trennen Leben
Getrennt
Geboren
Fensterlose Zellen webend
Worte wie Tür noch unerfunden
Wände stünden an allen Ecken
Keine Ziele
Nur Verstecke

Träume seien anders
Verschenktes nicht verloren
Gut aufgehoben doch
Weißes Porzellan
Für Gäste, die nur gehen.

Sie sagt, sie habe Angst
Und das sei, was ihr bleibe
In einer Stadt von unendlich vielen
Felsstaubigen Welten

© by Ali Yüce
allein in der küche

eigelb spiegel der seele
höre das fett knistern
brutzeln in der pfanne
wie das eiweiß weiß wird
wie ein schalensplitter
im licht der dunst
abzugshaube wird das auge
gepfeffert und gesalzen
hoffentlich zerfließt es nicht

© by Philipp Reisner
Ich Glückssucher

Wie ein Bruch
der reine magische Augenblick
magische Tapete an der Wand und Hände
vielleicht am Fettrest Halt bewahren
skulpturales Leben oder die düsenden Jäger
an Mondnacht und Weltraum
immer weiter immer weiter
das sind die Gefühle des Durchbruchs
an der Wand
an die das Gehirn knallt
und durch sie hindurch alle
Formen alle leuchtenden Formen
und die Hände begreifen durch die Haut hindurch
das Weiche das abfällt
und den Krieg übrig läßt
den definierten Raum von der Startpiste
ans ferne Ideal
in die Luft
pff
und ich begreife noch tiefer
in der Haut
durch die das Gehirn knallt und Knochensplitter
um bloß frei zu werden
an der Wand aber vielmehr noch
pelzig am Boden und in den
Ecken krabbelt mein freies Leben
Mein frei erzogenes geldmagisches
weltbesitzendes zielgerichtetes
Mondkalb
sprich doch und begründe
Erddrehung und Weltraumwissenschaft
Kriegswissen und Beute
Ach ihr Kriegsleute
aus strenger Form soll Chaos
wachsen und Atombombe
- fait accompli -
Gott schenkt mir wieder ein Gedicht
der wirre

© by PL Lipinski
Bild
[ ohne Titel ]

die januarstrassen
werden still
wenn der schnee
gegangen ist
winde geleiten
die toten nach hause
in den lampen
wohnt nur licht
was langsam
an die ufer schlägt
nicht wasser
winterträume
absatzklappern und dein atem
verklingen in den mauern
mir bleibt
ein dunkles lachen
für rauchschwangere abende

© by mariann b.
Bild
zeit und zahl

zwölf.

messdiener der verwesung
wandern über toten boden
ich frage dich
lieber nicht
draussen fallen massen
durch den nullpunkt aufgeblasener
zeiträume werden erst
nichts dann negativ
eilig flieht
dein blick
boshafte unendlichkeit
verrechnet zahlenlos
geschwindigkeitsüberschreitungen
mir hinter dir
fehlt mir
ein wort
besetztzeichen blockieren
deine leitungen
ein hintereingang lockt
mit schwarzlichtlampen
ich frage dich
heute nicht
an die wand
gepresste umrisse
meines niemandslandes
sinken in die ritzen
die pilger kehren zurück
es ist zwölf

die ganze zeit.

© by markus hill
Berlin.
Eine Nachtfahrt

4 Dreck und Feuer


Bewegung an den Rändern des Sichtfeldes etwas
das sich entzieht etwas das verschwindet
in den Häusern in den Straßen
hinter Betonpfeilern und Müllcontainern
sobald du dich umdrehst ungreifbar
in Löchern und Spalten in Kellern und Schächten
alles fliegt auseinander
weg weg weg in die Entropie
fade out nachts
das Kreischen der Hochbahn
im Schlaf du bist weg
das sagt sich so
das wird so gesagt
zwischen flackernden Projektionen
Schatten an der Wand
wandernde Schatten und Lichter
ungreifbar
Fragen die sich ablagern wie Staub
überall
ich erwarte gar keine Antwort
warum du und nicht ich
Ende der Worte Ende
des Denkens nachts in der Küche
ein Schluck Wasser ein bißchen Wirklichkeit hier
ein bißchen Traum da das sagt sich so
das wird so gesagt
nachts in der Küche
in den Seitenarmen der Zeit
Undefinierbares Angeschwemmtes
sanft bewegt von den Wellen
langsam versinkend
fade out irgendwo
Dunkel Fetzen Dunkel
Lichter an der Decke
die schwankende Glühbirne
die Leuchtreklame
der lautlose Atem der Toten
hinter den Tapeten
in den rissigen Mauern
Fleisch an Drehspießen
Türkisch-Pop Geschrei
hidden tracks in der Stille
Stimmen
von der Rückseite
der Wirklichkeit
Lichter überall auf
der schwarzen Oberfläche
Leben überall Leben
Entropie flackernde
Projektionen Leben
das sagt sich so
das wird so gesagt

© by Robert Stumpf - Vollversion
Hören

Die den Mund so voll nehmen,
gehöre ich zu denen?

Denen nichts gehört,
weil sie voll sind
des eigenen Getöses?

Wenn einem die Stille gehört,
so geh hin und bitte
um ein Stück davon!

Um die Leere zu füllen,
dass vor lauter Glück
du lachen musst.

© by Dieter Lenz
Bild
Stillstand

Ich zwischen
Räumen
unfähig
zu gehen
unsicher
zu bleiben

Ich zwischen
Wofür
Und
Wogegen
renne weiter
mit dem Kopf
gegen die Tür
Wozu

© by Brit Krostewitz


Info zur Anthologie

Diese Gedichtsammlung begann im August 2004 und trägt im Laufe der Zeit lyrische Fundstücke aus dem Internet zusammen. Ein Ende bzw. Abschluss dieser Sammlung ist nicht geplant. Wenn Sie also weitere, hierher passende Gedichte haben, können Sie uns diese gerne zusenden. Eine Veröffentlichung kann jedoch nicht garantiert werden.

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