Literatur & Dichtung

Bücher


Man hat gesagt, die Flüsse seien Wege, die gehen. Man könnte von den Büchern sagen, sie seien in Bewegung befindliche Teile von Bildern, von denen einer auf den anderen folgt, ohne daß es möglich wäre, sie auf einmal zu übersehen. Um das Band zu erfassen, das sie zusammenhält, ist bei dem Leser fast ebenso viel Intelligenz erforderlich wie beim Autor.
Eugène Delacroix (1, 208), Tagebuch: 1857

Die Botschaft großer Dichtungen an alle Menschen lautet: Kommt als Gleichberechtigte zu uns, nur dann könnt ihr uns verstehen. Wir sind nicht besser als ihr; was in uns ist, das ist auch in euch, woran wir uns erfreuen, daran könnt ihr euch auch erfreuen.
Walt Whitman (1, 12f), Grashalme

Die originellen Bücher sind in der Nacht der Zeiten verstreut wie die Sonnen in den Einöden des Weltenraums, um ihre Dunkelheit zu erhellen.
Claude-Adrien Helvétius (1, 7), Vom Menschen

Vielen wahren Büchern geht es wie den Goldklumpen in Irland. Sie dienen lange Jahre, nur als Gewichte.
Novalis (2, 32), Vermischte Bemerkungen [Blüthenstaub]

Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich.
Franz Kafka (2), Brief an Oskar Pollak, 27. Januar 1904

Gewisse Bücher scheinen geschrieben zu sein, nicht damit man daraus lerne, sondern damit man wisse, daß der Verfasser etwas gewußt hat.
Johann Wolfgang von Goethe (1, 522), Maximen und Reflexionen

Eine seltsamere Ware als Bücher gibt es wohl schwerlich in der Welt. Von Leuten gedruckt, die sie nicht verstehen; von Leuten verkauft, die sie nicht verstehen; gebunden, rezensiert und gelesen von Leuten, die sie nicht verstehen, und nun gar geschrieben von Leuten, die sie nicht verstehen.
Georg Christoph Lichtenberg (1, F: 196), Schriften und Briefe

Was ein richtiges Buch ist, das muß den ganzen Haushalt durcheinanderbringen: die Familie prügelt sich, wer es weiterlesen darf, die Temperatur ist beängstigend, und Mittag wird überhaupt nicht mehr gekocht.
Kurt Tucholsky (1, Bd. 9: 267f), Gesammelte Werke in 10 Bänden

Bücher sind Brillen, durch welche die Welt betrachtet wird; schwachen Augen freilich nötig, zur Stütze, zur Erhaltung. Aber der freie Blick ins Leben erhält das Auge gesünder.
Ernst von Feuchtersleben (1, Bd. 3: 378), Sämtliche Werke

Bücher sind immer langweilig. Aber die Menschen sind noch langweiliger - und dabei viel anspruchsvoller.
Anatole France (1, 9), Die rote Lilie

Wozu unzählige Bücher und Büchersammlungen, von denen der Besitzer in seinem ganzen Leben kaum die Titelverzeichnisse liest? Die Masse ist für's Lernen lästig, nicht fördernd; viel nützlicher ist es, mit wenigen Schriftstellern sich eingehend zu beschäftigen, als viele durchzublättern.
Seneca (1, 48), Vom glückseligen Leben

Es haben so viele mittelmäßige Leute und auch so viele Toren geschrieben, daß man im allgemeinen eine große Büchersammlung, von welcher Art sie auch immer sein mag, als eine Sammlung von Denkschriften über die Geschichte der Verblendung und Torheit der Menschen betrachten kann, und so könnte man über den Eingang aller großen Bibliotheken die folgende philosophische Inschrift anbringen: Narrenhäuser des menschlichen Geschlechts.
Jean Baptiste le Rond d' Alembert (1, 164)

Viele Kinder schieben die in der Schule erlittenen Strafen auf die Bücher, wegen deren sie die Strafen bekommen hatten; es verbinden sich beide Vorstellungen so mit einander, dass jedes Buch sie anekelt und sie sich ihr ganzes Lebenlang nicht zum Studium und Gebrauch der Bücher entschliessen können.
John Locke (2, 427f), Versuch über den menschlichen Verstand

Kann man <<erklären>>, worin der Zauber des Lebens besteht, wenn es jemand nicht selbst aus den kleinsten und alltäglichen Dingen heraushört oder richtiger: in sich selbst trägt? Ich [...] bin der Meinung, daß schon viel zu viel Bücher geschrieben sind; vor lauter Literatur vergessen die Menschen auf die schöne Welt zu schauen.
Rosa Luxemburg (1, 165), Brief an Hans Diefenbach, 12. Mai 1917

Jeden Schriftsteller überrascht es von Neuem, wie das Buch, sobald es sich von ihm gelöst hat, ein eigenes Leben für sich weiterlebt; es ist ihm zu Muthe, als wäre der eine Theil eines Insectes losgetrennt und gienge nun seinen eigenen Weg weiter. Vielleicht vergisst er es fast ganz, vielleicht erhebt er sich über die darin niedergelegten Ansichten, vielleicht selbst versteht er es nicht mehr und hat jene Schwingen verloren, auf denen er damals flog, als er jenes Buch aussann: währenddem sucht es sich seine Leser, entzündet Leben, beglückt, erschreckt, erzeugt neue Werke, wird die Seele von Vorsätzen und Handlungen - kurz: es lebt wie ein mit Geist und Seele ausgestattetes Wesen und ist doch kein Mensch.
Friedrich Nietzsche (7, 208.), Menschliches, Allzumenschliches: Viertes Hauptstück, Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller


Dichter & Schriftsteller


Gott denkt in den Genies, träumt in den Dichtern und schläft in den übrigen Menschen.
Peter Altenberg, Prodomos

Der Philosoph denkt aus der Ewigkeit in den Tag, der Dichter aus dem Tag in die Ewigkeit.
Karl Kraus (1, 177)

Ahnung und alles, was damit zusammenhängt, existiert nur in der Poesie, deren eigentliche Aufgabe darin besteht, das verknöcherte All wieder flüssig zu machen, und die vereinzelten Wesen, die in sich selbst erfrieren, durch geheime Fäden wieder zusammenzuknüpfen, um so die Wärme von dem einen zum anderen hinüberzuleiten.
Friedrich Hebbel (1, [3140]), Tagebücher 1843-1847

[...] ein ordentlicher Dichter ist doch nur der, der das Leben in seinen Büchern neu erschafft und besser als es ist, nicht moralisch besser, aber leuchtender, wärmer, lebendiger. An solchen Büchern kann man sich wärmen, wenn einen friert, die erfüllen den einen einzigen wirklichen Zweck der Kunst.
Hugo von Hofmannsthal (3, 80), Brief an Josephine von Wertheimstein, 6. Juli 1893

Alle schlechte Dichtung entspringt echtem Gefühl. Natürlich sein, heißt verständlich sein, und verständlich sein, heißt unkünstlerisch sein.
Oscar Wilde (1, 67), Aphorismen

Was ist ein Dichter? Ein unglücklicher Mensch, der heiße Schmerzen in seinem Herzen trägt, dessen Lippen aber so geartet sind, daß, während Seufzer und Geschrei ihnen entströmen, diese dem fremden Ohr wie schöne Musik ertönen.
Søren Kierkegaard (1, 15), Entweder-Oder

Das ganze bekannte Universum hat einen wahrhaft Liebenden, und das ist der größte Dichter. Er verschwendet sich in ewiger Leidenschaft und ist unbekümmert darum, was ihm das Schicksal bringt, welch mögliche Zufälligkeiten an Glück oder Unheil, er erringt täglich und stündlich seinen köstlichen Lohn. Was andere hemmt oder zerbricht - ihm es ist Nahrung nur für das Feuer seines Verlangens [...] Sein Erleben, seine Schauer und Erschütterungen sind nicht umsonst. Nichts kann ihn abschrecken - Leiden nicht noch Finsternis - nicht Tod noch Furcht.
Walt Whitman (1, 12f), Grashalme

Die Sprache tastet wie die Liebe im Dunkel der Welt einem verlorenen Urbild nach. Man macht nicht, man ahnt ein Gedicht.
Karl Kraus (1, 359)

Gefühl ist das unmittelbar von innen heraus wirkende Leben. Die Kraft, es zu begrenzen und darzustellen, macht den lyrischen Dichter.
Friedrich Hebbel (1, [111]), Tagebücher 1835-1843

Dichtkunst: ein Spiel der Sinnlichkeit, durch den Verstand geordnet.
Immanuel Kant

Die Wissenschaft ist für jene, die lernen; die Dichtkunst für jene, die wissen.
Joseph Roux

Dichtung ist Anteil an Freude und Schmerz und Wunder, mit ein paar Zutaten aus dem Wörterbuch.
Khalil Gibran (1, 27), Sand und Schaum

Ein Dichter muß 77mal als Mensch gestorben sein, ehe er als Dichter etwas wert ist.
Christian Morgenstern (1, 31), Sprüche, Epigramme, Aphorismen, Notizen

Jeder Dichter und alle ehrlichen Dilettanten schreiben mit ihrem Herzblute, aber wie diese Flüssigkeit beschaffen ist, darauf kommt es an.
Marie von Ebner-Eschenbach (1, 26), Aphorismen

Dichten ist wie Uran gewinnen: Arbeit ein Jahr, Ausbeute ein Gramm.
Wladimir Majakowski

Lyrik ist Logopädie im Zeitalter der Sprachlosigkeit.
Alexander Eilers (1, 66.), Aber-Witz

Man kann sich aufs Dichten so wenig vorbereiten, wie aufs Träumen.
Friedrich Hebbel (1, [5432]), Tagebücher 1848-1863

Alles wirkliche Dichten und Denken ist gewissermaßen ein Versuch, den kleinen Leuten einen großen Kopf aufzusetzen: kein Wunder, daß er nicht gleich gelingt.
Arthur Schopenhauer (4, Bd. V: 77 f), Parerga und Paraliponema II

Mich dünkt immer, die ganz schlechten Schriftsteller sollte man immer in den gelehrten Zeitungen ungeahndet lassen; die gelehrten Zeitungsschreiber verfallen in den Fehler der Indianer, die den Orang Utan für ihresgleichen und seine natürliche Stummheit für einen Eigensinn halten, von welchem sie ihn durch häufige Prügel vergeblich abzubringen suchen.
Georg Christoph Lichtenberg (2, 14), Aphorismen

Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft sind nicht getrennt voneinander, sondern vereint. Der größte Dichter gestaltet, was sein wird, folgerichtig aus dem, was ist und war. Er zieht die Toten aus ihren Särgen und stellt sie wieder auf die Füße. Er sagt zur Vergangenheit: Stehe auf vor mir und wandle, auf daß ich dich erkenne!
Walt Whitman (1, 12f), Grashalme

Ein Dichter ist ein Mensch, der in der Selbst-Hypnose seiner Seele dahinlebt. Falls man ihn rüttelt, auferweckt, sieht er die Dinge wie die anderen, die Vorgänge des Tages und der Stunde. Aber lasst ihn! Dass er im lichten Traume verkünde, was da kommen wird!
Peter Altenberg, Prodomos

Dichter und Nichtdichter scheiden ist gerade so unmöglich wie die sieben Regenbogenfarben trennen, oder sagen: Hier hört das Tier auf und hier fängt die Pflanze an. Was wir <<Dichter>> nennen, ist etwas willkürlich Abgegrenztes, wie gut und böse, warm und kalt.
Hugo von Hofmannsthal

Im Menschenleben selbst liegt, erblüht alle Poesie, wenn er danach lebt! Jeder wird zum Dichter, wenn er seine überschüssigen Kräfte in sich anhäuft, die zu "Symphonieen des eigenen Lebens" werden! [...] Seine Melancholieen drängender Kräfte ertragen können, heißt Mensch sein! Trauern-können um seine Gott-Unähnlichkeiten! Sich davon jederzeit erlösen können im "geschlechtlichen Rausche" ist Feigheit! Es ist "sich betrügen um Ideale", aus einem tragischen Ideal-Dasein ein bequemes Hausierer-Leben konstruieren. [...] Wehe denen, die "gesund" bleiben und "friedevoll" auf Kosten ihrer Ideale! Satan in uns ist nichts als der verleugnete Gott.
Peter Altenberg, Prodomos

Bäume sind Gedichte, die die Erde in den Himmel schreibt. Wir fällen sie und verwandeln sie in Papier, um unsere Leere darauf auszudrücken.
Khalil Gibran (1, 24), Sand und Schaum

[...] ein Schrifsteller ist doch kein Konditor, kein Kosmetiker, kein Spaßmacher; er ist ein Mensch mit Pflichten, der sich dem Bewußtsein seiner Verpflichtung und seinem Gewissen gegenübergestellt sieht; [...] er ist verpflichtet, seinen Widerwillen zu bezwingen, seine Phantasie mit dem Schmutz des Leben zu besudeln ... [...] Für die Chemiker gibt es auf Erde nichts Unsauberes. Der Schriftsteller muß genauso objektiv sein wir der Chemiker; er muß auf die Subjektivität des Alltags verzichten und muß wissen, daß die Misthaufen in der Landschaft einer sehr achtbare Rolle spielen und daß die bösen Leidenschaften dem Leben genauso eigen sind wie die guten.
Anton Tschechow (1, 36), Brief an Marija W. Kisseljowa: 14. Janaur 1887


Schreiben


Was immer Du schreibst:
Schreibe kurz, und sie werden es lesen.
Schreibe klar, und sie werden es verstehen.
Schreibe bildhaft, und sie werden es im Gedächtnis behalten.
Joseph Pulitzer

Folgendes sind allgemeingültige Grundgesetze der schriftstellerischen Mitteilung: 1) Man muß etwas haben, was mitgeteilt werden soll; 2) man muß jemand haben, dem man's mitteilen wollen darf; 3) man muß es wirklich mitteilen, mit ihm teilen können, nicht bloß sich äußern, allein; sonst wäre es treffender, zu schweigen.
Friedrich Schlegel (2, 158), Kritische Fragmente

Man muß jedesmal so schreiben, als ob man zum ersten und zum letzten Male schriebe. So viel sagen, als ob's ein Abschied wäre, und so gut, als bestünde man ein Debüt.
Karl Kraus (1, 139)

Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.
Voltaire

Schreiben ist leicht. Man muss nur die falschen Wörter weglassen.
Mark Twain

Schreiben heißt Bleigießen.
Friedrich Hebbel (1, [5494]), Tagebücher 1848-1863

Alles wahre Wunderbare ist für sich poetisch.
Jean Paul

Die Poesie soll alle Strahlen des Menschen, dieser Nebelsonne, auffangen, sie verdichtet auf ihn zurückleiten und ihn so durch sich selbst erwärmen.
Friedrich Hebbel (1, [1459]), Tagebücher 1835-1843

Wenn die Poesie etwas tut, so ist es das: daß sie aus jedem Gebilde der Welt und des Traumes mit durstiger Gier sein Eigenstes, sein Wesenhaftestes herausschlürft, so wie jene Irrlichter in dem Märchen, die überall das Gold herauslecken. Und sie tut es aus dem gleichen Grunde: weil sie sich von dem Mark der Dinge nährt, weil sie elend verlöschen würde, wenn sie dies nährende Gold nicht aus allen Fugen, allen Spalten in sich zöge.
Hugo von Hofmannsthal (4, 161f), Das Gespräch über Gedichte

Jeder kommt auf seinem Wege zur Wahrheit, eins aber muß ich sagen: was ich schreibe, sind nicht nur Worte, sondern ich lebe danach, darin ist mein Glück und damit werde ich sterben.
Lew Tolstoi

Die Kunst Bücher zu schreiben ist noch nicht erfunden. Sie ist aber auf dem Punkt erfunden zu werden. Fragmente dieser Art sind literärische Sämereien. Es mag freilich manches taube Körnchen darunter sein – indes wenn nur einiges aufgeht.
Novalis (2, 31), Vermischte Bemerkungen [Blüthenstaub]

Ich weiß - die Welt ist ja eine andere, und andere Zeiten wollen andere Lieder haben. Aber eben "Lieder", unser Geschreibsel ist ja meistens kein Lied, sondern ein farbloses und klangloses Gesurr, wie der Ton eines Maschinenrades. Ich glaube die Ursache liegt darin, daß die Leute beim Schreiben meistenteils vergessen, in sich tiefer zu greifen und die ganze Wichtigkeit und Wahrheit des Geschriebenen zu empfinden. Ich glaube, daß man jedes Mal, jeden Tag, bei jedem Artikel wieder die Sache durchleben, durchfühlen muß.
Rosa Luxemburg (1, 112 f), Brief an Robert Seidel, 23. November 1898

Auf meiner Seele klarem Grund die Fischchen herumspielen sehen, das freut dich? - Nun so guck! Wie sie da fahren wie der Blitz hin und her, sie prallen ans Ufer der allbekannten todbringenden Langeweile, sie stoßen sich den Kopf ein; und soll ich keine Leuchte anzünden, zwischen diesem klippigten Grund einen Ausweg zu finden aus der Pfütze - ins Weltenmeer? - Wohin sonst?
Bettina von Arnim (2, 25), Frühlingskranz

Ich brauche zu meinem Schreiben Abgeschiedenheit, nicht »wie ein Einsiedler«, das wäre nicht genug, sondern wie ein Toter. Schreiben in diesem Sinne ist ein tieferer Schlaf, also Tod, und so wie man einen Toten nicht aus seinem Grabe ziehen wird und kann, so auch mich nicht vom Schreibtisch in der Nacht.
Franz Kafka (2), Brief an Felice Bauer, 26. Juni 1913

Denn abgeschlossen sind wir durch enge Verhältnisse von der Natur, durch engere Begriffe vom wahren Lebensgenuß, durch unsere Staatsformen von aller Tätigkeit im Großen. So fest umschlossen ringsum, bleibt uns nur übrig, den Blick hinauf zu richten zum Himmel oder brütend in uns selbst zu wenden. Sind nicht beinahe alle Arten der neuern Poesie durch diese unsere Stellung bestimmt? Liniengestalten entweder, die körperlos hinaufstreben, im unendlichen Raum zu zerfließen, oder bleiche, lichtscheue Erdgeister, die wir grübelnd aus der Tiefe unsers Wesens heraufbeschwören; aber nirgends kräftige, markige Gestalten.
Karoline von Günderode (1), Briefe zweier Freunde

Welche Sachen schreiben und malen wir denn ab, wir [...] Verewiger der Dinge, welche sich schreiben lassen. was vermögen wir denn allein abzumalen? Ach, immer nur Das, was eben welk werden will und anfängt, sich zu verriechen! Ach, immer nur abziehende und erschöpfte Gewitter und gelbe späte Gefühle! Ach, immer nur Vögel, die sich müde flogen und verflogen und sich nun mit der Hand haschen lassen, - mit unserer Hand! Wir verewigen, was nicht mehr lange leben und fliegen kann, müde und mürbe Dinge allein!
Friedrich Nietzsche (3, 296.), Jenseits von Gut und Böse: Neuntes Hauptstück, Was ist vornehm?

Einmal schriebst Du, Du wolltest bei mir sitzen, während ich schreibe; denke nur, da könnte ich nicht schreiben [...]. Schreiben heißt ja sich öffnen bis zum Übermaß; die äußerste Offenherzigkeit und Hingabe, in der sich ein Mensch im menschlichen Verkehr schon zu verlieren glaubt und vor der er also, solange er bei Sinnen ist, immer zurückscheuen wird - denn leben will jeder, solange er lebt - diese Offenherzigkeit und Hingabe genügt im Schreiben bei weitem nicht. Was von dieser Oberfläche ins Schreiben hinübergenommen wird [...] ist nichts und fällt in dem Augenblick zusammen, in dem ein wahres Gefühl diesen obern Boden zum Schwanken bringt. Deshalb kann man nicht genug allein sein, wenn man schreibt, deshalb kann es nicht genug still um einen sein, wenn man schreibt, die Nacht ist noch zu wenig Nacht. Deshalb kann nicht genug Zeit einem zur Verfügung stehn, denn die Wege sind lang, und man irrt leicht ab, man bekommt sogar manchmal Angst und hat schon ohne Zwang und Lockung Lust zurückzulaufen [...], wie erst, wenn man unversehens einen Kuß vom liebsten Mund bekäme!
Franz Kafka (3, 148f), Brief an Felice Bauer, 14./15. Januar 1913

Was soll ich Dir denn schreiben, da ich traurig bin und nichts neues Freundliches zu sagen weiß? Lieber möcht' ich Dir gleich das weiße Blatt schicken, statt daß ich's erst mit Buchstaben beschreibe, die doch immer nicht sagen, was ich will.
Bettina von Arnim (1, I.), Goethes Briefwechsel mit einem Kinde

Warum habe ich Ihnen so lange nicht geschrieben? Ich könnte sagen, daß es mir an Zeit gefehlt. Das wäre aber nicht wahr. Ein dunkles Gefühl hat mich davon zurückgehalten, das ich mir selbst kaum zu erklären vermag. Eine Scheu. Eine letzte Loyalität, die Schweigen heißt. [...] Denn es gibt Anlässe, wo man sich unwillkürlich ins Banale rettet, weil es eine Hülle ist, eine breite wohl ausgetretene Straße, an deren Richtigkeit von anderen nie gezweifelt wird. Man bleibt damit dicht an der gehärteten Oberfläche des eigenen Wesens, enthüllt nichts, was zum inneren Ich gehört. Um aber zu den eigentlichen wahren Empfindungen zu gelangen, muß man in die Tiefen des Herzens greifen, und davor graut uns, wissen wir doch nie, was wir in ihnen finden werden.
Elisabeth von Heyking (1, 27.), Briefe, die ihn nicht erreichten: Berlin, Mai 1900
Es ist das erste Mal, daß ich im Dunkeln schreibe. [...] und ich spreche weiter zu Ihnen, ohne zu wissen, ob ich Buchstaben bilde. Überall, wo nichts auf dem Blatt steht, sollten sie lesen, daß ich Sie liebe.
Denis Diderot (1, 11), Brief an Sophie Volland, 10. Juli 1759

Jeder lernt nur, was er im Tiefsten schon weiß; so daß man, im unmutigen Momente, alles Schreiben für eitel erklären möchte: Denn wer Dich versteht, braucht dich nicht, und wer dich brauchte, versteht dich nicht.
Ernst von Feuchtersleben (1, Bd. 5: 310), Sämtliche Werke - Aphorismen

Die leichte Möglichkeit des Briefeschreibens muß - bloß theoretisch angesehn - eine schreckliche Zerrüttung der Seelen in die Welt gebracht haben. Es ist ja ein Verkehr mit Gespenstern und zwar nicht nur mit dem Gespenst des Adressaten, sondern auch mit dem eigenen Gespenst, das sich einem unter der Hand in dem Brief, den man schreibt, entwickelt oder gar in einer Folge von Briefen, wo ein Brief den andern erhärtet und sich auf ihn als Zeugen berufen kann. Wie kam man nur auf den Gedanken, daß Menschen durch Briefe mit einander verkehren können! Man kann an einen fernen Menschen denken und man kann einen nahen Menschen fassen, alles andere geht über Menschenkraft. Briefe schreiben aber heißt, sich vor den Gespenstern entblößen, worauf sie gierig warten. Geschriebene Küsse kommen nicht an ihren Ort, sondern werden von den Gespenstern auf dem Wege ausgetrunken. Durch diese reichliche Nahrung vermehren sie sich ja so unerhört. Die Menschheit fühlt das und kämpft dagegen, sie hat, um möglichst das Gespenstische zwischen den Menschen auszuschalten, und den natürlichen Verkehr, den Frieden der Seelen zu erreichen, die Eisenbahn, das Auto, den Aeroplan erfunden, aber es hilft nichts mehr, es sind offenbar Erfindungen, die schon im Absturz gemacht werden, die Gegenseite ist soviel ruhiger und stärker, sie hat nach der Post den Telegraphen erfunden, das Telephon, die Funkentelegraphie. Die Geister werden nicht verhungern, aber wir werden zugrundegehn.
Franz Kafka (2), Brief an Milena Jesenská, Ende März 1922